8. Mai 2008


Mit offener Hand lieben

Diese Woche fiel mir, als ich mit einem Freund sprach, eine Geschichte ein, die mir diesen Sommer erzählt wurde.

„Ein mitfühlender Mensch beobachtete einen Schmetterling, der versuchte, aus seinem Kokon auszu­brechen. Um ihm dabei zu helfen, zog er die Fäden mit großer Sorgfalt auseinander, um dem Schmetter­ling eine Öffnung freizumachen. Der Schmetterling befreite sich, kroch aus dem Kokon heraus und schlug mit den fluegeln, konnte aber nicht davon fliegen. Der mitfühlende Mensch hatte nicht gewusst, dass sie nur durch den Kampf bei der Geburt kräftig genug werden, um fliegen zu können. Der Schmetter­ling blieb am Boden, er lernte nie fliegen, lernte die Freiheit nie kennen und lebte nie richtig.“

„Mit offener Hand lieben“ zu lernen ist etwas ganz anderes. Es ist ein Weg, der mit Schmerz und Geduld gepflastert ist. Ich muss lernen, jemanden, den ich liebe, frei zu lassen, denn, wenn ich mich fest­klammere, mich an ihn hänge, versuche, ihn zu kontrollieren, verliere ich das, was ich behalten möchte.

Wenn ich versuche, jemanden, den ich liebe, zu verändern- weil ich das Gefühl habe, zu wissen, wie dieser Mensch sein soll, stehle ich ihm ein wertvolles Recht, das Recht, für sein Leben, für seine eigenen Entscheidungen, seine eigene Art zu leben, verantwortlich zu sein.


Jedes Mal, wenn ich meinen Wunsch oder meinen Willen durchsetze, oder wenn ich versuche, Macht auf einen anderen Menschen auszuüben, verhindere ich ihn an der Umsetzung seiner eigenen Wünsche und Vorstellungen. Ich schikaniere und behindere ihn durch meine Besitzansprüche, auch wenn meine Absichten die besten sind. Ich kann jemanden verletzen, auch wenn ich mit größter Gutherzigkeit handle. Meine Beschützerrolle und mein Helfertrip zeigen einem Menschen besser als Worte: „Du bist unfähig, dich um dich selbst zu kümmern; ich muss mich um dich kümmern, weil du mir gehörst. Ich bin für dich verantwortlich.“

Je weiter ich auf meinem Wege gehe, „mit offener Hand zu lieben“, desto leichter fällt es mir, jemandem, den ich liebe, zu sagen: „Ich liebe dich, ich schütze dich, ich habe Vertrauen zu dir. Du hast in dir oder du kannst in dir die Kraft entwickeln, alles zu werden, was dir möglich ist zu werden, unter der Bedingung, dass ich mich dir nicht in den Weg stelle. Ich liebe dich, solange ich dir die Freiheit lassen kann, neben mir zu gehen oder nicht. Ich werde deine Traurigkeit teilen, aber nicht von dir verlangen, zu weinen. Ich werde deine Freude teilen, aber dich nicht zwingen, zu lachen. Ich werde dir antworten, wenn du mich brauchst. Ich werde Sorge zu dir tragen, dich trösten, aber dich nicht stützen, wenn du selber gehen kannst. Ich werde an deiner Seite sein in Leidenszeiten und Einsamkeit, aber ich kann diese nicht von dir fern­halten. Ich werde mir Mühe geben, dir zuzuhören, um das zu hören, was du in deinen Worten ausdrücken möchtest, aber ich werde nicht immer deiner Meinung sein. Manchmal werde ich zornig sein, und wenn ich es sein werde, werde ich versuchen, es dir zu sagen, so dass wir uns nicht wegen unserer Unterschiede verkrachen. Ich kann nicht immer bei dir sein und dir zuhören, weil es Momente gibt, wo ich mir selbst zuhören und zu mir Sorge tragen ums. Wenn diese Zeit kommt, werde ich so ehrlich wie möglich zu dir sein.“

Langsam lerne ich, dies den Menschen zu zeigen, die mich lieben und die mir wichtig sind, sei es mit Worten oder durch die Art mit andern und mir selbst umzugehen.

Dies ist, was ich „mit offener Handlieben“ nenne.

Ich kann nicht immer verhindern, meine Hände in den Kokon zu stecken, aber es gelingt mir besser, seit ich gelernt habe, auch mich selbst zu respektieren.

Ruth Sanford


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